„What the heck?!“ – David Wilson versteht die Welt nicht mehr. Seit Tagen verliert ein Kühlaggregat der Produktionsmaschine vor ihm Leckwasser. Tropfen für Tropfen, die er notdürftig über einen Eimer auffangen lässt. Bauteile ließ er tauschen, Mails ans Headquarter in Heroldsberg bei Nürnberg schicken, externe Techniker die Maschine hier in Murfreesboro, im US-Bundesstaat Tennessee, durchchecken. Doch das nüchterne Ergebnis – deprimierend ungeschminkt quasi: Nichts hat’s gebracht. Deshalb greift Wilson nun zur digitalen Variante, zieht sich eine HoloLens-Brille auf, geht nah an das Kühlgerät und lässt sich von drei Kollegen in Deutschland, aus 7.500 Kilometer Entfernung, virtuell über die Schulter schauen.
Dort, auf ihren Büro-PCs im fränkischen Heroldsberg, haben drei Kollegen exakt Davids Sichtfeld buchstäblich auf dem Schirm. Wilson geht mit seinem Blick immer wieder an der Verrohrung entlang, tauscht sich fachmännisch in Echtzeit über die gemeinsam entwickelte Remote- Support-Lösung mit den anderen aus. Bis einem der Männer im virtuellen Teamwork ein Verdacht kommt. Konkret ein Kollege der Flaschnerei – eines traditionellen Handwerks der Blechbearbeitung – ist es, der mit jahrzehntelanger Erfahrung einer Eingebung folgt und seinem US-Kollegen rät: „David, entfern mal bitte die kompletten Isolierungen von den Leitungen.“ Und Minuten später – siehe da: „Bei der letzten Montage hat doch tatsächlich jemand ein Stopfventil vergessen, das noch in der Leitung steckte und da überhaupt nicht hingehörte, das war des Rätsels Lösung. Darauf wäre, wer auch immer, allein niemals jemand gekommen“, sagt Bernd Preuschoff, Senior Vice President Digital Transformation bei Schwan Cosmetics, der zusammen mit seinen Kollegen die HoloLens-Anwendung in Kooperation mit der T-Systems MMS entwickelt und im Unternehmen eingeführt hat.
Mittels HoloLens-Technologie steuern Experten in der Schwan-Cosmetics-Zentrale in Heroldsberg die weltweite Wartung ihrer Maschine.
„Es wird digitalisiert, was digitalisiert werden kann“, so Lars Vogel, Standortleiter München der T-Systems Multimedia Solutions. Es gibt bereits zahlreiche „Chief Digital Officer“, es werden Arbeitsgruppen oder Thinktanks implementiert und Firmen mit dem nötigen Kleingeld gründen hippe Niederlassungen in Berlin, Mate-Eistee und Chill-out- Lounges inklusive. Alles gut, aber hier und da ist dies mitunter kaum mehr als Kosmetik. Ein Schuss digitale Politur gewissermaßen, der nur die Oberfläche erreicht. Da beschreitet der traditionsreiche Global Player aus Franken andere Wege. Hier, bei einem der weltweit größten Produzenten von Eyelinern, Liplinern und Kajalstiften, dringt Digitalisierung tief in die Poren, wird gelebt und gehört zum täglichen Brot. Doch das Geheimrezept dafür ist eigentlich gar keines: digitale Transformationen fängt hier beim Menschen an und nicht auf der Maschinenebene.
Die Produkte der Industrieholding, die bereits im 19. Jahrhundert gegründet wurde, kennt jeder und hat sie – was ja für die Bindung an ein Unternehmen immer noch viel besser ist – sicher mindestens schon mal in der Hand gehabt oder nutzt sie gar täglich. Das sind die Textmarker mit der charakteristischen Form und dem ebenso unvergesslichen Namen „Boss“, die prägend orangefarbenen Fineliner mit den weißen Strichen für die Schönschreiber oder beispielsweise die Eye- oder Lipliner namhafter Kosmetikmarken. Alles sehr haptische Produkte, die aber mittlerweile auch eine starke Kopplung an die neue digitale Welt haben. „Wenn eine bekannte Influencerin mit mehr als 100 Millionen Followern am Dienstag auf YouTube ein Video postet und Schminktipps mit unserem neuen Kajalstift gibt, dann glühen noch am selben Tag beim Auftragseingang die Drähte und die Produktion muss Vollgas geben“, berichtet Bernd Preuschoff. Angestiftet via Social Media, kann so die Nachfrage nach ein, zwei dedizierten Produkten exponentiell skalieren. In nationalen Märkten, aber auch weltweit.
„Digitalisierung fängt beim Menschen an – nicht auf der Ebene von Maschinen.“
Welche Power, welche Dynamik die Digitalisierung so in Echtzeit entfalten kann, ist in Heroldsberg längst erkannt worden. Und nicht nur das. Man richtet sein Geschäft sogar tatsächlich danach aus, tief gehend, auf die Zukunft fokussiert, eben nicht als Politur. Deshalb verstand man dort auch von Anfang an, wie sich am Arbeitsplatz der Einsatz von Datenbrillen à la HoloLens am besten in Angriff nehmen lässt. Initiiert wurde das Eintauchen in „New Work“ mittels Virtual Reality beziehungsweise Augmented Reality, um die Wartungsprozesse an sieben Produktionsstandorten weltweit zu optimieren. Denn Schwan Cosmetics produziert außer in den USA und am Stammsitz Heroldsberg außerdem in China, Mexiko, Indonesien, Tschechien, Kolumbien und Brasilien. Und überall prägen komplexe, hochautomatisierte Anlagen die Produktion. Deren Fabrikhallen sind weltweit genauso gepflegt wie ein Luxuslimousinen-Showroom. Denn wer Kosmetikprodukte herstellt, unterliegt strengsten, nicht zuletzt dermatologischen Vorgaben. Das heißt, Schwan Cosmetics ist nicht nur lean, sondern auch clean. Herausforderung dieser hochtechnisierten, klinisch sauberen Fabrikation ist jedoch eine ungleiche Qualifikation an den Standorten, die sich nicht zuletzt in Ressourcenknappheit bemerkbar macht. Das Expertenwissen um die Hightechmaschinen ist nicht überall auf demselben Level und daraus resultieren hohe Kosten. Techniker müssen weltweit fliegen, ab und an kommt es zu kostspieligen Maschinenausfällen. Heute hingegen können auch Qualitätsaudits deutlich kostengünstiger durchgeführt werden.
Allerdings sind Industriemaschinen allerorts gewissermaßen von Geburt an auf Effizienz getrimmt. „Es gilt, mit minimalem Aufwand den maximalen Output aus der Maschine zu holen. Das heißt, wenn wir ausgelastet sind, haben wir gar keine Zeit, uns um neue Wartungsansätze über beispielsweise eine HoloLens zu kümmern. Steht eine Maschine dann aber mal still, fehlt die Zeit ebenfalls, denn dann müssen wir sie ja schnell wieder funktionsfähig machen“, bringt Michael Wazlav, Geschäftsführer der Schwan Cosmetics Produktionstechnik, die Produktionsmaschinen für das gesamte Netzwerk herstellt und wartet, die klassischen Herausforderungen auf den Punkt, wenn es darum geht, in industriellen Produktionsbetrieben neue Technologien einzuführen. Konsequenz für die Verantwortlichen: „Digitalisierung fängt in unserem Haus bei den Kollegen an. Wenn man heute jemanden fragt, ob er Augmented und Virtual Reality in seinem Arbeitsalltag vermisst, ist das, als hätte man vor 15 Jahren gefragt, ob er ein Smartphone vermisst“, erklärt Bernd Preuschoff. Ihm war es deshalb wichtig, die HoloLens im Betrieb „zu entmystifizieren, sie spielerisch einzuführen“, wie er betont.
Höchste Standards in der Qualitätskontrolle sind für Schwan Cosmetics ein selbstverständliches Must-have.
Bernd Preuschoff und seine Teamkollegen tourten deshalb durch den Betrieb, sprachen mit dem Betriebsrat, besuchten sowohl Tag- als auch Nachtschichten und ließen ihre Kolleginnen und Kollegen die Brille einfach mal anfassen, aufsetzen, ausprobieren. So machten sie die Technologie sprichwörtlich „greifbar“. Die Produktionsmaschinen von Schwan Cosmetics waren zu diesem Zeitpunkt erst einmal nebensächlich. Dem Team ging es schlicht darum, sozusagen interne Influencer zu finden, die Spaß an neuer Technologie haben und sich dafür begeistern, diese dann Kollegen näherzubringen. „Es ist bei unserer Wartung via HoloLens entscheidend, dass die Menschen miteinander reden, sich austauschen und in effizienter Teamarbeit versuchen, Fehler einzugrenzen. Und das ist uns gelungen, indem sie sich zuerst über das neue Werkzeug unterhalten haben und es dann selbst einmal erproben“, so Preuschoff weiter.
Im Ergebnis entstand dadurch die „porentiefe“ Digitalisierung – und zugleich deren größter Nutzen. Denn die zuerst gewünschten Spareffekte – allein bei den Reisekosten ein hoher fünfstelliger Betrag – sind beinahe en passant eingetreten. Mal ist es ein Maschinenstillstand, ein anderes Mal sind es Bedienungshinweise, welche die Mitarbeiter veranlassen, eine Mixed-Reality-Brille zu zücken und sich mit den Kollegen weltweit auszutauschen. Viel wichtiger sind jedoch die indirekten Effekte der HoloLens. Schwan Cosmetics erzielt damit nämlich vor allem einen immensen Wissenstransfer im Unternehmen. „Jeder, der im Büro tätig ist, kennt das: Windows streikt, man ruft den IT-Support an, es wird geholfen. Nachher ist man allerdings genauso schlau wie vorher. Inzwischen aber wird der Mitarbeiter beispielsweise in den USA durch die Kollegen hier vor Ort lediglich dabei unterstützt, sein Problem selbst zu lösen. Denn er bekommt nur eine Anleitung und führt die Reparaturmaßnahme mit seinen eigenen Händen durch. Das nächste Mal benötigt er diese Unterstützung vermutlich nicht mehr“, zeigt sich Alexander Sarkissian, Digital Initiative Manager bei Schwan Cosmetics, überzeugt.
Die Digitalisierung auf Kollegenebene ist mittlerweile vollständig etabliert. Ob es um Probleme bei der Stiftmontage, die plötzlich zu viel Ausschuss produziert, oder um die Inbetriebnahme der größten Anlage geht, die je für das Kosmetikunternehmen gebaut wurde und im tschechischen Český Krumlov steht: Die HoloLens hat sich zum alltäglichen Arbeitsgerät gemausert. Mittlerweile geht der Einsatz auch so weit, dass selbst komplizierte Einsätze an den Maschinen vorher via HoloLens durchgespielt werden. Und sogar die Maschinenbediener gewinnen zunehmend Vertrauen in die Technologie. Sie zeigen sich entspannter im Umgang mit neuen, komplexen Maschinen, denn sie wissen, dass sie im Notfall immer jemand ad hoc virtuell unterstützen kann. Schwan Cosmetics gelingt es, mit dieser Strategie Berührungsängste einfacher abzubauen, und schafft Raum für neue Ideen wie beispielsweise ein digitales Farbmanagement, das ebenfalls mit T-Systems entwickelt wird. Die Beautyprodukte des Unternehmens gibt es in 350 verschiedenen Texturen und 12.000 unterschiedlichen Farben. Die hohe Vielfalt basiert auf den weltweit unterschiedlichen Marktbedürfnissen – „andere Länder, andere Farben“.
Deshalb soll Digitalisierung dabei helfen, Transparenz über das gesamte Farbportfolio zu schaffen. Schon damit Anwender auf einfache Weise verschiedene Möglichkeiten haben, ihre Wunschfarbe zu definieren, um anschließend fest zu legen, welche von den 12.000 Farben am besten passen. „Neben der Beschleunigung des Prozesses und dem Einsparen physischer Musterstifte können die Kunden zukünftig kollaborativ in den Farbfindungsprozess eingebunden werden“, so Alexander Sarkissian, der das Projekt leitet. Ganz gleich aber, was den Mitarbeitern von Schwan Cosmetics noch einfällt: „Unsere Ansätze verbinden stets Menschen, die kollaborativ etwas in die Wege leiten“, fasst Bernd Preuschoff die sehr spezielle und erfolgreiche Digitalisierungsstrategie des Unternehmens zusammen – Digitalisierung immer zuerst auf Kollegenebene.
Ihr Ansprechpartner: Martin.Reissmann@t-systems.com