Wer sich mit Weiterverfügungen beschäftigt, der arbeitet weder in der Gesundheitsbranche noch im Rechtswesen. Tatsächlich ist Weiterverfügung ein Fachbegriff aus dem Eisenbahnwesen – und dazu noch ein wenig beliebter. Denn er bedeutet in einfachen Worten so viel wie: „Da muss sich jemand anderes drum kümmern“. Dadurch entstehen jeden Tag erhöhte Aufwände und eine Belastung für das operative Geschäft. Grund genug für Transport- und Logistikunternehmen DB Cargo, der ineffizienten Weiterverfügung auf den Pelz zu rücken – gemeinsam mit der Managementberatung Detecon, einer Tochter von T-Systems.
Aber alles der Reihe nach. Im Schienennetz Europas sind Schätzungen zufolge etwa 600.000 Güterwaggons im Einsatz, die vor allem Volumengüter wie Erz und Kohle, aber auch Chemikalien, Holz, Autos und vieles mehr transportieren. In Deutschland allein wurden 2019 etwa 400 Millionen Tonnen Güter mit der Bahn befördert. Klingt nach viel – ist aber gerade mal ein knappes Fünftel des Gesamt-Güterverkehrs, der zu mehr als 70 % immer noch über deutsche Autobahnen rollt.
Angesichts steigender Benzinpreise und des allgemein gesellschaftlichen Wunschs nach mehr Nachhaltigkeit wird der Ruf „Güter auf die Schiene“ wieder lauter. Die Bundesregierung will den Anteil der Schiene am Güterverkehr steigern, um die Klimaziele zu erreichen. Bis 2030 sind 25 % geplant.
Die Zahlen sprechen klar für die Bahn: Kein Verkehrsmittel hat eine derart klimafreundliche Transportbilanz. Der Transport einer Tonne erzeugt pro zurückgelegtem Kilometer 16 Gramm CO2 und 0,03 Gramm Stickoxide (NOx). Das sind lediglich ein Siebtel (14 %) bzw. ein Dreizehntel (8 %) des Lkw-Verkehrs.
Mindestens zwei weitere Faktoren rufen nach einem verstärkten Warentransport auf den Schienennetzen: Die im Sommer regelmäßig sinkenden Pegelstände der großen deutschen Flüsse, die den Schiffsverkehr behindern und das aktuelle Topthema: die Sicherung der Versorgung mit Energie. Dr. Sigrid Evelyn Nikutta, Vorstandsvorsitzende der DB Cargo AG sieht in den Entwicklungen eine große Chance für ihr Unternehmen: „Der Güterverkehr wird wachsen. Wir haben jetzt die Chance, dieses Wachstum auf die Schiene zu holen.“
Zahlreiche Schadmeldungen treffen täglich bei DB Cargo ein.
Die DB Cargo ist der größte europäische Anbieter in diesem Segment. Rund 200.000 aller europäischen Güterwaggons, also ein gutes Drittel, gehen jedes Jahr alleine in Deutschland durch dessen Hände. Rund 70.000 davon sind eigene. Die Verfügbarkeit dieser Waggons ist relevant für das Business. „Nur schadfreie Güterwagen erzeugen Umsätze“, weiß Christian Kühnast. Als Projektleiter bei DB Cargo hat er 2021 eine neue Lösung für ein intelligentes Schadwagenmanagement eingeführt – um dessen Prozesse zu optimieren.
Denn der Transport der Tonnenlasten ist kein Pappenstiel für die Güterflotte. Zahlreiche Schadmeldungen treffen täglich ein. Die Bandbreite der Schäden schwankt dabei von Graffitis über die klassischen Verschleißteile wie Bremssohlen und Radsätze bis hin zu nicht mehr lauffähigen Waggons.
„Wegen der großen betriebswirtschaftlichen Bedeutung der rollenden Waggons überprüfen wir unsere Prozesse seit zwölf Jahren regelmäßig mit allen Beteiligten“, erzählt Kühnast, „2018 entschlossen wir uns, mit einem neuen Prozess und einer neuen Software für das Schadwagenmanagement ein dickes Brett zu bohren.“ Die DB Cargo zog die Detecon als Berater hinzu, um die Business-Anforderungen in eine moderne digitale Lösung zu überführen. „Wir waren also von Anfang an direkt in der Konzeptionsphase involviert“, ergänzt Tim Herbstrith, der die Entwicklung der Applikation auf Detecon-Seite betreut hat.
„Unser Ziel war es, die Effizienz des Schadwagen-Managements zu erhöhen. Dazu wollten wir primär zwei Kennzahlen verbessern, indem wir die Ausfallzeiten der Güterwaggons und die Anzahl der Weiterverfügungen reduzieren“, erklärt Christian Kühnast. Lange Zeit wurden mit dem etablierten Prozess defekte Waggons immer zum lokal nächsten Instandhaltungswerk gebracht. Dabei zeigte sich jedes Jahr in 7.000 Fällen, dass ein Waggon dort nicht repariert werden konnte.
Typische Gründe: Entweder fehlten in der Werkstätte die passenden Anlagen für die Reparatur oder das Team war bereits ausgelastet. Seltener schlug das Fehlen von Ersatzteilen zu Buche. Das Resultat: Mit der Weiterverfügung (und dem damit verbundenen Transport) an eine passende Werkstatt verstrichen neuerlich zusätzliche Tage, bis der Wagen wieder in den Dienst genommen werden konnte. Eine vermeidbare Situation!
„Mit den neuen Prozessen und der neuen Applikation iSWM (intelligentes Schadwagenmanagement) wollten wir einen Schlussstrich unter diese Praxis ziehen“, so Kühnast. Die cloud-native Applikation musste die bestehenden Funktionen der seit 1986 existierenden Lösung auf Natural-Basis erhalten und ein gehöriges Maß an zusätzlicher Intelligenz erhalten. Zugleich sollte die Applikation auch mit einer Fülle von Partner-Systemen interagieren können. Nicht nur das Schadwagenmanagement, sondern auch das operative Geschäft waren als Nutznießer vorgesehen.
„Heute profitiert fast jeder operative Kollege, insgesamt 15.000 Mitarbeiter, von iSWM. Die meisten, ohne dass sie es wissen. Die Applikation zieht im Hintergrund die Fäden und automatisiert viele Abläufe“.
iSWM berechnet auf Grundlage von verschiedenen aktuellen Daten beispielsweise den Ort des defekten Wagens, die Art des Schadens und den Abstand zur Werkstatt, den sogenannten Zulauf-Score. Entsprechend des Scores werden die Wagen dem geeignetsten Instandhaltungswerk zugeordnet. Die Parameter werden in einem Data Lake abgelegt. Dadurch kann zu einem späteren Zeitpunkt die Entscheidung von iSWM zur Zuordnung der Reparatur nochmals bewertet und die Gewichtung der einzelnen Faktoren im Modell überprüft werden: Waren diese richtig oder brauchen sie weitere Anpassungen?
Wie auch früher steht der Wagenmeister am Anfang des Prozesses. Er untersucht die eingesetzten Waggons vor der Abfahrt des Güterzuges. Fallen ihm Schäden auf, dokumentiert er diese mit einem europaweit einheitlichen Schad-Code im Produktionssystem von DB Cargo. Wenn Güterwagen aus dem Ausland kommen, werden über Vormeldungen bereits die einheitlichen Schadcodes am Güterwagen übermittelt. Damit kann iSWM auch Befunde von Wagenmeistern aus Polen oder Italien verarbeiten.
Aus dem Schad-Code erkennt die Applikation, welcher Schaden wo am Wagen entdeckt wurde. Sie gleicht den Schaden mit den Kompetenzen der Werke ab und beordert den Wagen zu einer passenden Lokation, sobald der Wagen wieder nach Deutschland zurückkehrt. Im Schnitt können mehr als 80 % der Wagen noch den Transport beenden, bevor der Wagen einer Werkstatt zugeführt werden muss.
Ursprüngliches und optimiertes Modell im Vergleich.
Wichtig sind aber auch die Personalkapazitäten und der aktuelle Auslastungsstatus der jeweiligen Werkstatt sowie die Gesamtlast und die Orte der beschädigten Wagen. Um Wellen zu vermeiden, in denen die Werkstätten abwechselnd mit zu wenig und zu vielen Aufträgen bedient werden, entwickelte Detecon einen Simulationsalgorithmus. „Dieser lässt auf Basis realer Daten Güterwagen in verschiedenen Regionen kaputt gehen“, erläutert Herbstrith. Die defekten Güterwagen werden dann einer Werkstatt zugeordnet. Einmal entsprechend dem alten Prinzip der kürzesten Distanz (Bild links), einmal nach dem neuen iSWMScoring-Mechanismus (Bild rechts).
Dabei zieht eine unausgelastete Werkstatt (gelb) Güterwagen aus einem größeren Umfeld an. Überlastete Werkstätten (orange) werden vermieden. Kaputte Güterwagen aus deren Umfeld gehen an die nächstgelegene Werkstatt mit freien Kapazitäten. Die ursprünglich München zugeordneten Aufträge (linkes Bild) fahren nach Nürnberg oder Magdeburg (rechtes Bild). Damit nivelliert sich die Auslastung im Laufe der Zeit (mehr Werkstätten werden grün).
Die Applikation berücksichtigt auch eventuell anstehende geplante Instandhaltungen, wie z. B. Revisionen (regelmäßige Kontrollen, die üblicherweise im 6-Jahrestakt erfolgen), aber auch die Priorisierung der Reparatur. Werden Wagen dringend benötigt, kann die Reparatur vorgezogen werden. Für ein tolerables Graffiti hingegen kann die Reparatur auch aufgeschoben werden. Das entscheiden die Verantwortlichen in der zentralen Disposition in Duisburg. Nach erfolgter Reparatur meldet die Applikation die Verfügbarkeit des Wagens an die Partnersysteme – der Wagen kann wieder eingesetzt werden.
„Das Projekt hat einen bedeutenden Beitrag geleistet, um die Effizienz in unserem Schadwagen-Management zu steigern“, resümiert der Projektmanager von DB Cargo. Die Zahl der Weiterverfügungen konnte um 14 % reduziert werden, die Auslastung der Instandhaltungswerke hat sich ausgeglichen. Mit der Applikation kann nun auch die Arbeitslast für die Werke entsprechend den verfügbaren Personalkapazitäten gesteuert werden. Insgesamt sank die Anzahl der Werkstattaufenthalte; die Ausfallzeiten reduzierten sich deutlich. Damit bekommen die Waggons mehr produktive Einsatzzeit auf der Schiene – mehr Güter können befördert werden, der Umsatz steigt.
Ein betriebsinterner Nachhaltigkeitsgewinn ist ein willkommener Nebeneffekt: „Da wir weniger unnötige Transportkilometer produzieren, reduzieren wir natürlich auch unseren CO2-Fußabdruck“, teilt Kühnast mit.
„Mit dem Data Lake können wir nun unsere Big-Data-Analytik erweitern. Denn jeder Waggon ist anders“, führt Kühnast aus. Seine individuelle Abnutzung hängt nicht nur von der Jahreszeit ab, sondern auch davon, wo er verkehrt und was er transportiert. So ist die Abnutzung z. B. auf Anstiegs- und Gefällestrecken höher als auf ebenen Strecken. Mit der Erfassung dieser Daten sowie Bildern von Bauteilen können Künstliche Intelligenzen Schäden automatisch erkennen und kategorisieren.
„Wenn wir Auffälligkeiten im Betrieb erkennen, können wir dann direkt beurteilen, ob und wann eine Reparatur nötig ist und wie dringend sie ist. iSWM könnte sich damit zu einem Entscheidungsvorbereiter entwickeln“, so Kühnast.