Mit einem KI-gestützten „Control Tower“-System reduziert der spanische Automobilbauer SEAT die Auslieferungszeiten seiner Fahrzeuge und bindet die Kunden schon in die Produktionsplanung ihrer Autos ein.
SEAT in Martorell. Auf einer Fläche von 2,8 Mio. Quadratmetern, das entspricht der Größe von 400 Fußballfeldern, produzieren 7.000 Mitarbeiter täglich 2.300 Autos. 485.000 im Jahr, alle 40 Sekunden eins. Unter anderem für die hier, 20 Kilometer nordwestlich von Barcelona, vom Band laufenden Modelle Leon, Ibiza und Arona werden rund 16 Millionen Einzelteile verarbeitet. In drei Schichten, jeden Tag. Schon das Zahlenwerk macht deutlich: Jede Möglichkeit, die Kosten in der Produktionslogistikkette zu senken und zugleich die Lieferzeiten der Fahrzeuge an die Endverbraucher zu beschleunigen, steigern unmittelbar das Kundenerlebnis und führen für SEAT als Marke sofort zu einem wirtschaftlichen Nutzen.
Dafür hat die Volkswagen-Konzerntochter 2019 ein Projekt zur Optimierung der Logistikprozesse gestartet, von dem sämtliche Fahrzeugproduktionslinien profitieren. Und die winden sich in insgesamt 15 Hallen auf dem Gelände über gut 30 Kilometer lange Fertigungsstraßen und -schienen. Konkret geht es um die Implementierung eines Echtzeit-Online-Rückverfolgungs- und Monitoring-System für jedes einzelne der von allen Lieferanten der Marke erhaltenen Bauteile. Darüber hinaus umfasst die Lösung alle relevanten Informationen der für den Transport der Produktionsmaterialien zuständigen Logistikunternehmen. „Im Kern“, so David Castilla, Projektverantwortlicher bei SEAT, „ist dieses System so etwas wie ein logistischer Kontrollturm“. Und tatsächlich: Mit seiner in verschiedene Anzeigen unterteilten Videowand, auf der ständig aktualisierte Zahlen, Grafiken, Routen, Codes und vieles mehr angezeigt werden, hat der Control Tower des Logistikzentrums in Martorell große Ähnlichkeit mit dem Tower eines Flughafens.
So ermöglicht der Lieferketten-Kontrollturm dem Autobauer, in Echtzeit aktualisierte Informationen über den Fluss und den Verbrauch von Produktionsmaterial zu erhalten. Um jederzeit zu wissen, wo sich jedes einzelne Teil befindet und wann es ankommt sowie im Voraus zu wissen, ob es zu Lieferverzögerungen kommen wird, verarbeitet das System permanent ein Puzzle aus 200.000 Schlüsseldaten. Die tägliche Aktualisierung der Daten umfasst alle Arten von Komponenten und Parametern, von den Lagerbeständen der Zulieferer bis hin zu den Prozessen in den Transport- und Logistikzentren. „Informationen, deren Aktualisierung bisher Stunden und zahlreiche Telefonate in Anspruch nahm, werden jetzt in Sekunden aktualisiert”, erklärt Projektleiter David Castilla, Ingenieur, Betriebswirt und als Supply Chain Manager bei SEAT verantwortlicher Projektleiter des Control Tower.
Damit verfolgt SEAT den Ansatz, über die Digitalisierung der Produktionsprozesse und eine genauere Kontrolle der Fertigungsschritte hinaus, innovative Dienstleistungen anzubieten und sogar neue Geschäftsmodelle zu lancieren. „Dieses Projekt schafft die Grundlagen und Kontrollmechanismen, dem Kunden ein viel besseres Einkaufserlebnis zu bieten. Denn Ziel ist es nicht nur, den Liefertermin von Anfang an zu gewährleisten, sondern ihn in der Regel sogar noch abzukürzen und gleichzeitig dem Endkunden noch während des Herstellungsprozesses seines Fahrzeugs die Möglichkeit zu bieten, Anpassungen vorzunehmen“, erklärt Castilla. Und der Projektmanager macht deutlich, wie sehr SEAT bei Planung und Produktion jedes Autos dessen zukünftigen Fahrer in den Vordergrund rückt: „Für uns hat der Kunde eine Schlüsselposition. Durch ein besseres Verständnis seiner Erwartungen können wir Marktbedürfnisse besser antizipieren, Produktionspläne anpassen oder Einkaufspläne optimieren.“
Logischerweise war eine große Datenmenge unverzichtbare Voraussetzung, wie David Castilla erklärt: „Daten sind unser Rohmaterial für den Aufbau digitaler Projekte. Ein klares Programm, um sicherzustellen, dass die Qualität der Daten ausreichend ist, trägt entscheidend zum Erfolg bei“. In diesem Sinne die „Programm-Verantwortliche“ des Projekts ist Eva Pueyo, T-Systems-Accountmanagerin für SEAT. So war eine „unserer wichtigsten Aufgaben im Projekt die Bereitstellung der Intelligenz der Plattform. Wenn die dafür nötige Datenqualität nicht ausreicht, ist eine Entscheidungsfindung auf der Grundlage visueller und analytischer Berichterstattung der Lösung im besten Fall unmöglich, im schlechtesten Fall einfach falsch“.
Das von der Telekom-Tochter entwickelte System sammelt Daten aus mehreren hundert Referenzquellen in den Systemen von SEAT und bereitet sie für die weitere Analyse und die Anzeige nützlicher Geschäftsinformationen auf. Das System erkennt, aus welcher Quelle es die Informationen extrahieren, welche Daten es dafür auswählen und wie es diese verarbeiten muss, damit sie von den Produktionsbereichen genutzt werden können. Ebenso wurde ein App-basiertes Tracking-System für die Transporteure bereitgestellt, das mit der Dateneingabeplattform verbunden ist.
Was eine geeignete Datenqualität erst ausmacht, erklärt Eva Pueyo gern: „Einerseits müssen wir die Ursprünge gegenüberstellen, um zu überprüfen, ob die Daten in jedem Prozess die genauen und notwendigen Informationen liefern. Andererseits müssen diese Informationen mit Kontextdaten gefüttert werden, die dann die nötige multidimensionale Vision liefern. Schließlich muss überprüft werden, ob die Berichte, die in den Visualisierungs- und Analyseplattformen herauskommen, auch die erwarteten sind. All dies wird in jedem Schritt des Projekts auf integrierte Weise durchgeführt und später mit den Benutzern der Plattform verifiziert“.
Die Einführung dieser Lösung erfolgt schrittweise. Derzeit sind neben den mit den Logistikrouten verbundenen Transportunternehmen rund 20 TIER1-Lieferanten in das Logistiksteuerungssystem für die Produktionsmaterialerfassung integriert. „Parallel dazu werden im Laufe dieses Jahres weitere funktionelle Verbesserungen der aktuellen Lösung eingeführt und anschließend die zukünftigen Implementierungen in den Logistikprozessen Einkauf und Fertigproduktversand fortgesetzt“, so Eva Pueyo.
Diese agile Methodik hat maßgeblich dazu beigetragen, dass T-Systems die eigene Lösung maximal an den geschäftlichen Meilensteinen von SEAT ausgerichtet hat. „So wurden in jedem Sprint die zu erreichenden Ergebnisse definiert und vereinbart, welche Art von Daten und aus welchen Quellen integriert werden sollen. Begonnen wurde dabei jeweils mit einem MVP (Minimum Viable Product), einer Art ‚kleinstem gemeinsamen Nenner‘, der den Nutzern des Systems vom ersten Zyklus an Funktionalität zur Verfügung stellt und ihnen ermöglicht, sich mit den neuen Daten, Berichten und Funktionalitäten ständig weiterzuentwickeln“.
Gegenwärtig ist das System noch analytisch reaktiv. Nächstes Ziel ist die Entwicklung einer Plattform, die Analysen vorausschauend durchführt und so etwa die Bedarfe der Materialversorgung in jedem Prozessschritt der Automobilfertigung antizipieren kann. Beim Pressen der Karosserieteile, den Schweißwerken und Lackstraßen bis zu den Montagebändern. Darüber hinaus wird die Rückverfolgbarkeit und Überwachung systematisch auf die Auslieferung des fertigen Produkts ausgeweitet, was zu einer Optimierung der Automobilherstellungsprozesse führt. Dies ermöglicht Kostensenkungen und höhere Margen, während gleichzeitig die bei einer Teilelieferung entstehende Fehler und deren Behebungskosten vermieden werden.
Damit aber noch nicht genug. So soll das Rückverfolgbarkeitsmodell im Sinne eines rundum vollständigen Projektkreislaufs auch auf den Einkauf ausgedehnt werden. Damit wird SEAT ermöglicht, durch den Einsatz künstlicher Intelligenz die Herstellungskosten noch einmal zu senken. Dahinter steckt ein vorausschauendes System, indem die kostengünstigsten Zeitpunkte für den Kauf von Teilen und Materialien gewählt, der Bedarf geplant und an die Angemessenheit der Kosten angepasst werden kann, ohne dass die Lagerhaltung eines einzigen Bauteils leer läuft.
Mit dieser letzten Phase deckt das Projekt in Martorell den gesamten Zyklus der SEAT-Logistik ab und stellt das Liefermodell so um, dass die Produktions- und Vermarktungsprozesse der Fahrzeuge optimiert und flexibilisiert werden.
David Castilla ist davon überzeugt, dass diese Art von Technologie das derzeitige Prozess-Management und SEAT‘s Interaktionen mit den Kunden revolutionieren wird. Zugleich würden die Beziehungen zwischen den Akteuren der Logistikketten gestärkt und Partnermodelle entwickelt, um Endkunden noch einmal bessere Dienstleistungen anzubieten.
„Jeder derzeitige Lieferant wird so eine Hyper-Connection mit SEAT entwickeln und seine Rolle in der Lieferkette für uns immer verlässlicher. Konnektivität in den Informationsflüssen, Prozessen und bei der Lösung von Zwischenfällen wird die Grundlage dafür sein, den Lieferketten Qualität, Geschwindigkeit und Effizienz zu bieten“. Und genau das – davon ist David Casstilla überzeugt, „wird in Zukunft so etwas wie die 'neue Grenze des Wettbewerbs'. Und wir müssen diejenigen sein, die zuerst dort ankommen, mit einem besseren Produkt und der besten Erfahrung für unsere Kunden“. Das Ende der Fahnenstange, so David Castilla weiter, sei damit aber längst nicht erreicht. „Im absoluten Mittelpunkt aller Entscheidungen, die wir bei SEAT in unseren Prozessen treffen, stehen immer Informationsmanagement, Partnerschaftsmodelle und die Einbeziehung des Kunden. Insoweit lässt sich unser Modell auf jeden Bereich unserer Unternehmensaktivitäten skalieren“.