Nach 12 Jahren ist Schluss: Wenn man eingängigen Studien trauen darf, treten die meisten Autos heutzutage nach einem Dutzend Jahren ihre letzte Reise an – zum Schrottplatz. Was früher unkompliziert – und wenig ressourcenschonend – einfach in die Presse ging, wird heute zusehends zerlegt und wiederverwendet. Auto-Einzelteile finden sich so in einem zweiten Leben als Ersatzteile auf mancher Online-Plattform wieder. Doch lohnt sich für einen Demontierer der Ankauf eines solchen Schrottautos? Oder in welchen Teilen sind welche Schadstoffe verbaut, auf die ein Recycler achten muss?
Die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette des Autorecyclings kann den Prozess umweltfreundlicher und wirtschaftlich rentabler machen.
Bislang verlassen sich Verwerter auf selbsterstelle Listen, Datenbanken und eine gehörige Portion Erfahrung, um Entscheidungen für einen Ankauf zu treffen. Dabei wissen sie oftmals nicht, welche Teile und Materialien tatsächlich verbaut sind und ob sich der Ankauf unter dem Strich lohnt. Die Situation von Zerlegern und Recyclern am Ende des Product Lifecycle illustriert anschaulich ein Defizit der automobilen Wertschöpfung: Niemand kann auf Knopfdruck sagen, was tatsächlich in einem Auto steckt.
Um das Problem zu verstehen, lohnt der Blick zurück. Zur Bestellung eines Neuwagens. Viele Neuwagenkäufer erwarten das Fahrzeug, das zu ihren Bedürfnissen passt. Sie wählen nicht mehr nur Farbe und Motorvariante, sondern Felgen, Sitze, Entertainmentsystem, Fahrassistenz und vieles mehr – gelebter Kundenfokus. Ein individueller Neuwagen erhält eine fast einzigartige Kombination aus Komponenten.
Das Beherrschen der Ausstattungsmöglichkeiten ist nicht nur eine Kunst für den Automobilbauer, sondern auch für seine Lieferkette. So bedeutet die Entscheidung für eine spezielle Neuwagenkonfiguration die Notwendigkeit, bestimmte Bauteile bereitzustellen. Diese kommen aus dem Lieferantenökosystem des Automobilbauers und werden über mehrere Wertschöpfungsschritte zum fertigen Produkt zusammengesetzt.
Dabei nutzt jeder Lieferant die bei ihm etablierten Methoden, Prozesse und IT-Systeme, die häufig nicht kompatibel sind mit denen anderer Unternehmen. Komponenten und Bauteile in den verschiedenen Enterprise Resource Planning (ERP)- und Product Data/Lifecycle Management (PDM/PLM)-Systemen erhalten unternehmens-individuelle Kennungen, unterschiedliche Datenformate kommen zum Einsatz, eigene Nomenklaturen und Vokabulare. So nutzen ERP-Systeme beispielsweise die Bezeichnung „Material“, während PLM-Systeme von „Parts“ sprechen. FahrzeugführerInnen werden im anderen Kontext auch als Driver oder Operator bezeichnet.
Komponenten und Bauteile in den verschiedenen Systemen erhalten unterschiedliche Datenformate, was für Ineffizienz entlang der automobilen Wertschöpfungskette sorgt.
Es wird leicht nachvollziehbar, dass dieser etablierte Umgang mit Daten für Ineffizienz entlang der automobilen Wertschöpfungskette sorgt. Ein durchgängiger Standard könnte hier Abhilfe schaffen. Aber der übergreifende Standard müsste auch dafür sorgen, dass andere (nur) die Daten erhalten, die für sie relevant sind. Die Unternehmen müssten – auch bei verbesserter Transparenz und Effizienz in der Wertschöpfungskette – Herr ihrer Daten bleiben. Das ist die Vision von Catena-X für ein automobiles Ökosystem. Der Weg zu einem unternehmensübergreifenden Standard für den Datenaustausch wird damit einer der kritischen Erfolgsfaktoren von Catena-X und folgend auch in angrenzenden Industrien.
Doch wie lassen sich die verschiedenen Informationswelten zusammenführen? Im Catena-X-Projekt arbeiten viele Firmen (u.a. auch Bosch und T-Systems) an einer Lösung dafür. Dabei erfolgt ein enger Schulterschluss zwischen Informationstechnik (semantische Technologien) und Fachlichkeit aus den Catena-X Use Cases. „Unsere Vision ist es, eine einheitliche Sprache für die automobile Wertschöpfungskette zu erzeugen und so das babylonische Sprachgewirr aufzulösen.“, erläutert Dr. Tom Buchert von T-Systems. Dr. Birgit Boss von Bosch ergänzt: „Am Schluss geht es darum, Rohdaten in Information umzuwandeln, mit der jede und jeder in der Kette auch wirklich etwas anfangen kann.“
Informatiker sprechen hierbei von semantischen Datenmodellen. Vereinfacht gesagt geben semantische Datenmodelle vor, welches Format Daten haben müssen und welche Bedeutung die jeweiligen Daten haben. Das semantische Daten-Metamodell ist der logische Überbau, damit ein effizienter Datenaustausch über die gesamte Wertschöpfungskette entstehen kann. Die einzelnen semantischen Modelle folgen den vom Metamodell vorgegebenen Regeln und spannen das Kommunikations-Spielfeld auf. Wie immer in CATENA-X setzt man dabei auf offene Standards, wie z.B. die Asset Administration Shell der Industrial Digital Twin Association (IDTA). Auch hier bringt sich Bosch mit seinem Know-how zu Fertigung und Automotive ein.
Doch damit tut sich eine weitere Frage auf: Wie kann das Konzept der semantischen Datenmodelle realisiert werden? „An dieser Stelle kommen Digitale Zwillinge ins Spiel“, erläutert Dr. Tom Buchert von T-Systems. Sie fungieren als zentrales Ordnungselement und Kristallisationspunkt für die Semantik. Buchert: „Das klingt zunächst kompliziert, aber die Idee dahinter ist simpel: Der Digitale Zwilling wird eine Art Daten-Container“. Jeder Digitale Zwilling hat eine eindeutige ID. Diese ID ist verknüpft mit den zum Zwilling gehörigen semantischen Modellen und den dazugehörigen Daten. Jedes am Wertschöpfungsprozess beteiligte Unternehmen kann diese Modelle als Vorlage nutzen, um die richtigen Daten bereitzustellen bzw. zu nutzen. Andernfalls ist die Interoperabilität nicht gewährleistet.
Die Bereitstellung der Daten sowie der Digitalen Zwillinge erfolgt dann über gemeinsam definierte Schnittstellen. T-Systems bietet hierfür mit dem PDM WebConnectorTM eine kommerzielle Integrationslösung an, die es Unternehmen ermöglicht, Informationsmodelle und Daten aus ihren Backendsystemen (z.B. ERP/PLM) zu extrahieren und diese entsprechend der standardisierten Catena-X Semantik für die Applikationen bereitzustellen.
Auf jeder Wertschöpfungsstufe entsteht so ein – unternehmenseigener – „Datencontainer“. Diese werden derzeit auf einer zentralen Plattform registriert. Der Austausch der Daten an sich findet dann dezentral, aber in einem standardisierten Format statt. Eine App für Endanwender, beispielsweise der Recycler oder der Demontierer, erlaubt den Zugriff auf eine für ihn relevante Kombination von Daten. Mit anderen Worten: Die App beantwortet seine Frage nach den verbauten Komponenten oder den enthaltenen Schadstoffen – ohne Zugriff auf weitere Daten zu erhalten. Das Konzept adressiert so auch die Datensouveränität für die Beteiligten, wobei die Frage, welche Daten zentral oder dezentral bereitgestellt werden, weiterhin einen zentralen Diskussionspunkt von Catena-X darstellt.
„Natürlich können digitale Zwillinge mit semantisch angereicherten Modellen für die auszutauschenden Daten auch für andere Anwendungsfälle genutzt werden – nicht nur in der Automobilbranche“, beschreibt Boss das Potenzial, „so kann beispielsweise der Carbon Footprint über den gesamten Lebenszyklus hinweg erfasst werden. Das Konzept erlaubt jedwede kollaboratives Zusammentragen von Daten – für jeden Zweck“. Rosige Aussichten für den Austausch von verständlichen Daten über Firmengrenzen hinweg.