ISG-Chefanalyst Heiko Henkes über Fachmitarbeiter als Software-Entwickler, Systemsteuerung per Augenbewegung und was die digitale Transformation in der Industrie ausbremst.
Viele Entscheider in der Industrie schauen mit Blick auf die digitale Transformation vor allem auf neue Technologien, Lösungen und Geschäftsabläufe. Was sie dabei gerne und oft übersehen: Wenn die IT zum Geschäft wird, müssen folgerichtig auch die Fachmitarbeiter zu IT-Experten werden. In vielen Unternehmen geraten sie deshalb mehr und mehr in die Rolle von Entwicklern.
Heiko Henkes ist Director und Principal Analyst beim IT-Marktforschungs- und Beratungshaus Information Services Group (ISG).
Insofern steht in Industrieunternehmen die technologieübergreifende Digitalisierung des gesamten Business und der Mitarbeiter auf der Tagesordnung. Bleiben Unternehmen hier zu passiv, wird ihre Stellung am Markt früher oder später untergraben werden. Zumal die Fachexperten im Unternehmen den Schlüssel zu einer der drängendsten IT-Fragen in der Hand halten, wenn es um die digitale Transformation geht: Wie lassen sich all die Daten so aufbereiten, dass sie das Geschäft voranbringen?
In der verarbeitenden Industrie treibt vor allem das Internet of Things (IoT) beziehungsweise das Industrial Internet of Things (IIoT) die Digitalisierung maßgeblich voran. Und das wird auch in absehbarer Zeit so bleiben. Zumal dem Thema mit dem Ausrollen der 5G-Technologie in den Mobilfunknetzen ein weiterer Schub bevorsteht. Denn mit 5G lassen sich viele zusätzliche Geräte und andere Datenquellen fern von den klassischen WAN- und LAN-Systemen mit bis zu 10 Gbit/s anbinden. Besonders die Latenz lässt sich mit Hilfe von 5G stark reduzieren, was beispielsweise beim autonomen Fahren eine entscheidende Rolle spielt. Allerdings steht innovativen Unternehmen hier eine Geduldsprobe bevor. Denn es ist davon auszugehen, dass fünf bis zehn Jahre ins Land gehen werden, bis in Deutschland eine wirklich flächendeckende 5G-Abdeckung verfügbar ist.
Dies bremst auch eine weiterhin notorisch unterschätzte Technologie aus, die gerade in der verarbeitenden Industrie vielfältiges Anwendungspotenzial aufweist: Augmented Reality (AR) und dabei insbesondere Augmented Mobility – etwa bei Fahrassistenz in Produktion und (Lager-)Logistik, Gestenerkennung, Fabrikautomatisierung oder Authentifizierung. Zugleich kommen in mehr und mehr IoT-Szenarien 3D-Sensorik-Kameras zum Einsatz- oder sogar 3D-Rekonstruktionen beziehungsweise Fotogrammmetrie (Bildmessung). Dank des maschinellen Sehens (Computer Vision) lassen sich solche Verfahren in Echtzeit durchführen.
Computer lernen also das Sehen. Gebäude, Räume oder Orte werden mit Hilfe von Machine Learning-Algorithmen oder Tiefensensoren, die in modernen Smartphones verbaut sind, gescannt und mittels punktgenauer Geokoordinaten digital gespeichert. Start-ups wie etwa Mapstar aus Deutschland oder das mit Millionen anschubfinanzierte Ubiquity6 setzen auf diese neue Technologie. Ziel ist es, die reale Welt in Industrieunternehmen zunehmend zu digitalisieren, virtuell zu verändern und je nach Bedarf abzurufen.
Auch sind mittlerweile funktionsmächtige Datenbrillen verfügbar, die reibungslos mit den üblichen Smartphones und Tablet-PCs zusammenarbeiten. Die Miniaturisierung dieser komplexen Technologie hat mittlerweile dazu geführt, dass sich Datenbrillen kaum noch von herkömmlichen Sonnenbrillen unterscheiden lassen. Dies gibt dem Breiteneinsatz von Augmented Mobility zusätzlichen Schub. Insgesamt gilt: Die Möglichkeiten, AR-Technologien im industriellen Kontext einzusetzen, vervielfältigen sich derzeit rasant, während die Preise fallen und die benötigte Hardware immer handlicher wird. Selbst AR-Kontaktlinsen sind in Planung, befinden sich jedoch noch ganz am Anfang der Entwicklung.
Hinzu kommt: Start-ups wie zum Beispiel Mojo Vision, aber auch etablierte Unternehmen wie Samsung sind in diesem Bereich kräftig dabei, modernste Hardware zu entwickeln. Und auch die IT-Riesen mit ihren bereits umfangreichen Ökosystemen springen im Massenmarkt auf den Zug auf. So haben zum Beispiel Google und Facebook Start-ups gekauft, die auf Blickerfassung, das „Eye Tracking“, spezialisiert sind oder feinste AR-Apparaturen anbieten. Ein Beispiel ist Oculus. Gerade im industriellen Umfeld, in dem es oft laut zugeht und die Mitarbeiter nicht immer beide Hände frei haben, ist die Systemsteuerung per Augenbewegung oft die schnellere und zuverlässigere Alternative.
Mit Blick auf den Mittelstand kranken IoT-Projekte jedoch (noch) an einem: Sie sind zunächst oft klein. Dies führt wiederum dazu, dass sich die dafür benötigten Service-Anbieter zurückhalten. Denn für sie rechnen sich IoT-Projekte oft erst dann, wenn sie diese breit skalieren oder über Ländergrenzen hinweg ausrollen können.
Auch deshalb ist es beim Aufbau von IoT-Anwendungen notwendig, stetig an der Kostenschraube zu drehen – etwa über Edge Computing. Zurzeit werten Unternehmen keine fünf Prozent der im Produktionsumfeld anfallenden Daten aus. Trotzdem führt das Vorhalten dieser Daten in der Public Cloud heute schon dazu, dass die dafür anfallenden Kosten zu hoch sind. Edge Computing hingegen analysiert die Daten schon dort, wo sie entstehen und stellt sie bei Bedarf auch „am Edge“ zur Verfügung – nicht nur kostengünstig, sondern auch mit sehr geringen Latenzzeiten. Davon profitieren zum Beispiel die latenzsensitive autonome Navigation, Fernüberwachung, Gesichtserkennung, Videoanalyse und nicht zuletzt wiederum Augmented Reality-Anwendungen.