Wie kommen wir in verkehrsgeplagten Städten bequem, aber umweltschonender ans Ziel? Intermodales Reisen, die Verkettung unterschiedlicher Verkehrsmittel für eine nahtlose Verbindung von Tür-zu-Tür, ist trotz vieler neuer Verkehrsoptionen in Deutschland bisher keine Realität. Woran das liegt untersuchen die Mobility Analytics Experten der Telekom mit Hilfe von Simulationstests in unserem Digitalen Zwilling Berlin und im Reallabor in Hamburg.
Zum einen erleben gerade viele Großstädte den Verkehrsinfarkt, immer mehr und längere Staus (TomTom Traffic Index Ranking 2019), und Bürgerinnen und Bürger klagen über Luftverschmutzung and Lärmbelästigung (eine detaillierte Analyse haben wir in „Kein Vorankommen im Verkehr“ veröffentlicht). Zum anderen entstehen gerade durch die Digitalisierung immer neue Technologien, die neue Reisemöglichkeiten eröffnen. Die verbreitete Nutzung von Smartphone und Apps (mobile Karten, Turn-by-Turn-Navigation, Bezahlen per Smartphone) hat Fahrdienste, Fahrgemeinschafts- und Car-Sharing-Angebote (wie Uber, Free Now und Lyft) möglich gemacht. Und bessere Akkus haben die Innovation bei Zweirädern wie E-Bikes und E-Scootern vorangetrieben – in Deutschland mussten sogar Gesetze geändert werden (eKFV 2019). So sind mittlerweile bereits in einigen Großstädten Smartphone basierte Mobilitätsplattformen mit einem multimodalen oder Mobility-as-a-Service (MaaS) Angebot entstanden, wie z.B. Jelbi der Berliner Verkehrsbetriebe und Switch der Hamburger Hochbahn. Und das Straßenbild ist dort sichtbar bunt geworden: einmal durch elektrische Tretroller oder E-Scooter – wie von Bird (schwarz), Lime (weiß), Tier (grün) und Voi (rot) - und auch Leihfahrräder von Anbietern wie Donkey Republic (orange) und Next (silber). Doch trotz dieser unübersehbaren Vielfalt neuer Verkehrsoptionen für die letzte Strecke zum Ziel (Micromobilität) ist bislang kein intermodales Serviceangebot entstanden. Und das wirft einige Fragen auf: Weshalb nicht? Auf den ersten Blick sollte doch gerade das an starre Routen und Fahrpläne gebundene Angebot des ÖPNV durch die neue Micromobilität flexibler und damit attraktiver werden können. Worauf warten wir noch? Eine Antwort wäre, dass die E-Scooter für den Geek und Technikfreak zwar aufregend sind aber letztendlich für den Endkunden keinen praktischen Nutzen ergeben.
Der Nutzen für den Endkunden ist das conditio sine qua non, eine unabdingbare Voraussetzung für jedes wirtschaftlich realisierbare Angebot. Ohne Nutzen für den Endkunden ist alles andere Makulatur. Betrachten wir diesen Punkt also genauer. Doch wie? Wie lässt sich der Nutzen der intermodalen Mobilität abschätzen, wenn es sie noch gar nicht gibt? Wie lässt sich das Unmögliche umsetzen, um das Wahrscheinliche zu belegen? Unser Vorgehen ist zweigleisig, mit Theorie und Praxis sozusagen: Zum einen setzen wir auf (theoretische) Simulationsexperimente für erste Indikationen; zum anderen bauen wir (praktisch) einen Demonstrator mit echten Verkehrsmittelträgern und Datenlieferanten.
Simulation ist ein geschätztes wissenschaftliches Werkzeug (z. B. Schlueter Langdon 2005) was sich im Bereich der Ökonomie aus den Grundlagen der Nobelpreisträger Simon (1996) und Smith (1962) entwickelt hat. Für Mobilität gibt es auch bereits verschiedene Werkzeuge beispielsweise SUMO (Simulation of Urban Mobility), eine Open-Source-Verkehrssimulation des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR 2020, Krajzewicz et al 2012), sowie die Software VMC des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM (Fraunhofer ITWM 2020). Diese umfangreichen, leistungsstarken Tools ermöglichen äußerst detaillierte Analysen. Für unseren Zweck einer groben Abschätzung des Endkundennutzens wurde ein deutlich vereinfachtes Modell und Verfahren konzipiert gepaart mit einer wissenschaftlich genauen Umsetzung und experimentellen Strategie (siehe z. B. Schlueter Langdon 2014; für eine detaillierte Beschreibung, siehe „Intermodale Mobilität“). Dieses Modell wurde einmal getestet mit Durchschnittswerten für Gesamtdeutschland und dann konkret für Berlin, unserem Berlin Digital Twin. Denn Durchschnittwerte sind bei Reisen problematisch, da Variablen stark ungleich verteilt sein können. So variieren Reisedistanz und -zeit stark je nach Transportmittel. Für ganz Deutschland und alle Verkehrsträger (vom Fußweg zum Auto) beträgt z.B. die durchschnittliche Reiselänge 12,5 km, während der Median, die Mitte, nur 3,8 km beträgt (Follmer & Gruschwitz 2019). Aus diesem Grund rücken wir mit dem Berlin Digital Twin von Durchschnittswerten ab. Stattdessen befassten wir uns mit extremen Bedingungen wie dem morgendlichen Berufsverkehr und wählten gezielt die Hauptverkehrsadern Berlins aus. Denn wenn ein intermodales Angebot zu diesen Zeiten dort funktioniert, funktioniert es überall und jederzeit.
Die Ergebnisse unserer Simulation sprechen eine deutliche Sprache: Die intermodale Reise ist schneller (für eine detaillierte Beschreibung, siehe „Digitaler Zwilling Berlin und Intermodales Reisen“). Die Experimente zeigen, dass die Zeitersparnis schnell über 10 % beträgt und bei „smarter“ Verlinkung wie der Empfehlung eines Parkplatzes mit E-Scooter Anschluss (siehe Szenario S2 in Abbildung 1, Smart Parking mit Smart E-Scooter) sogar doppelt so hoch sein kann (siehe Abbildung 2). Dieses Ergebnis geht weit über Rauschen hinaus, es kann sich nicht um eine zufällige Abweichung handeln. Werte über 10 % sind ein deutliches Anzeichen, dass wirkliche Verbesserungen eintreten können. Insbesondere da wir das Modell in einem sehr spezifischen Kontext ablaufen ließen – in Berlin. Die Bezeichnung „digitaler Zwilling Berlin“ kommt nicht von ungefähr, da die Simulation auf Werten basiert, die der Berliner Realität entsprechen – es ist also eher ein echtes Experiment als eine Simulation. Anders ausgedrückt kämen Sie zu ähnlichen Ergebnissen, wenn Sie das Experiment tatsächlich in den Straßen Berlins durchführen würden (also die Stoppuhr eingepackt und dann los …).
Worauf warten wir noch? Okay, Verbrauchervorteile sind nur die erste Erfolgsvoraussetzung. Und hier wurde auch nur auf den Zeitvorteil abgestellt. Es ist zwar die wichtigste aber nur eine Entscheidungsvariable für den Kunden. Es kommt auch auf Kosten und Komfort an oder noch genauer die richtige Kombination dieser Faktoren. Und wegen dem Klimawandel, muss auch der Umweltschutz entsprechend berücksichtigt werden. Die andere wichtige Voraussetzung für die Entstehung eines Angebots ist das Unternehmen verstehen müssen, inwieweit und auf welche Art und Weise sich die Verbrauchervorteile zu Geld machen lassen. Diese zweite Voraussetzung für Erfolg hängt unmittelbar von der Rolle der Daten ab. „Smart“ geht nur mit Daten. Nehmen wir Uber als Beispiel: Die Zuordnung eines Fahrgastes zu einem Fahrer ist von Daten abhängig, nämlich den Standorten von Fahrgast und Fahrer, der Verfügbarkeit und den Verkehrsbedingungen … jeweils mit demselben Zeitstempel. Ohne diese Daten könnte Uber kein Beförderungsangebot orchestrieren. Für die „Uberisierung“ müssen alle Beteiligten – Fahrgäste und Fahrer – Daten nahezu in Echtzeit weitergeben. Dasselbe gilt für die intermodale Mobilität: Datenweitergabe ist der Schlüssel. Das Problem ist offensichtlich: Einige Beförderungsoptionen stehen miteinander im direkten Wettbewerb (ÖPNV, Taxen, E-Scooter usw.). Somit sind einige Dienstleister Wettbewerber und trauen sich gegenseitig nicht über den Weg. Jeder möchte den Kunden oder die Kundenanbindung „besitzen“ und die Kundendaten für sich behalten. Zudem kann eine Datenschutzvorschrift wie die DSGVO als Ausrede zur Nichtweitergabe wichtiger Daten dienen. Abhilfe könnte eine Technologie schaffen, die nicht auf Vertrauen zwischen den Beteiligten basiert. Es würde reichen, wenn die Beteiligten einer gegenseitig gewinnbringenden Datentransaktion vertrauen würden.
Hier kommt unsere Arbeit an der IDS-Norm ins Spiel. IDS ist eine DIN-SPEC-Norm für den Datenaustausch unter Wahrung der Datensouveränität (Otto et al. 2019 und IDSA-Blog). Oder, um es in meinen Worten auszudrücken: IDS ermöglicht es Parteien, die einander nicht trauen, einer bestimmten Datentransaktion zu trauen. Und genau hierum geht es im Reallabor Hamburg, festzustellen, ob eine IDS basierte Lösung möglich ist. Die Simulation hat u.a. geholfen aufzuzeigen, dass es echte, quantifizierbare Vorteile für Endkunden, die Nachfrageseite, gibt. Mit dem Reallabor kann jetzt untersucht werden, wie auf Angebotsseite mit dem IDS eine entsprechende Dienstleistung für Endkunden orchestriert werden kann. Hierzu baut die Telekom mit dem Team des Telekom Data Intelligence Hubs (DIH) und zusammen mit dem Urban Software Institute einen funktionstüchtigen Demonstrator zur Vorstellung mit dem Reallabor Hamburg auf dem 2021 ITS World Congress. Da hier auch schon die IDS Technologie für die europäische GAIA-X Hypercloud verwendet wird, entsteht damit quasi auch ein erster mini GAIA-X Mobility Data Space.
Follmer, R., and D. Gruschwitz. 2019. Mobility in Germany, short report. Edition 4.0 of the study by Infas, DLR, IVT and Infas 360 on behalf the Federal Ministry of Transport and Digital Infrastructure (BMVI) (FE no. 70.904/15). Bonn, Berlin.
Krajzewicz D., J. Erdmann, M. Behrisch, and L. Bieker. 2012. Recent Development and Applications of SUMO – Simulation of Urban Mobility. International Journal on Advances in Systems and Measurements 5 (3&4): 128-138
Schlueter Langdon, C. 2005. Agent-based Modeling for Simulation of Complex Business Systems: Research Design and Validation Strategies. International Journal of Intelligent Information Technologies 1(3) (July-September): 1-11
Schlueter Langdon, C. 2014. 3-Step Analytics Success with Parsimonious Models. In: Wang, J. (ed.). Encyclopedia of Business Analytics and Optimization. Idea Group Publishing: Hershey, PA; London: 1-13
Otto, B., D. Lis, J. Juerjens, J. Cirullies, S. Opriel, F. Howar, S. Meister, M. Spiekermann, H. Pettenpohl, and F. Möller. 2019a. Data Ecosystems: Conceptual Foundations, Constituents and Recommendations for Action. Fraunhofer ISST Report, ISSN 0943-1624 (October), Dortmund